Literarische Grenzgänger: Erasmus-Fahrt nach Brno (Tschechien)

Am Abend des 28.9.2024 machte sich eine Gruppe Elft- und Zwölftklässler auf in Richtung Brünn (Brno) im Südosten Tschechiens. Fast alle waren Deutsch-LKler, denn die Fahrt hatte den Schwerpunkt „literarische Grenzgänger".

Mit dem Nachtzug ging es zunächst nach Prag, wo – natürlich – Franz Kafka und seine Wirkungs- und Erinnerungsstätten besucht wurden. Mit einem Actionbound-Spiel wurden „Kafkas Orte – Kafka´s Places" erkundet und fotografisch festgehalten, da diese Bilder später in Brünn benötigt wurden. Nach nur einem Tag verließen wir Prag weiter in Richtung Osten und nahmen Kurs auf Brünn.

Brünn liegt in Mähren und ist die zweitgrößte Stadt Tschechiens. Sie ist vor allem Universitätsstadt, ganze 14 Hochschulen beherbergt die Stadt, die stark von studentischem Flair geprägt ist. Unser Ziel war jedoch der Schulkomplex am Mendelplatz, wo einst der bekannte Abt J.G. Mendel die Gesetzmäßigkeiten bei der Vererbung erforschte, die man noch heute als Mendelsche Regeln kennt. Nach einer ersten Erkundung des Schulkomplexes, das auch das 1. Deutsche Landesgymnasium beherbergt, waren wir natürlich sehr auf die tschechische Klasse gespannt. Die kurze Vorstellungsrunde in deutscher Sprache ergab, dass die Schüler der Abschlussklasse im Schnitt ein Jahr älter sind, so wie es dann bei unserm G9 wieder sein wird. Eine Vorstellung der Schule gab uns einen ersten Überblick und zeigte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Bildungssysteme auf.

Am Dienstag fand gemeinsam mit den tschechischen Schülern eine Sprachanimation statt. Diese wurde von TANDEM durchgeführt, einer Organisation die deutsch-tschechische Schülerbegegnungen begleitet und Aktionen anbietet. So erlernte die deutsche Gruppe einige tschechische Ausdrücke und umgekehrt, wobei es hauptsächlich um den spielerischen Austausch und das gegenseitige Kennenlernen ging. Schließlich erlebten wir in vier verschiedenen Gruppen bzw. Klassen eine Deutschstunde und sahen mal aus ganz anderer Perspektive, wie Deutsch eben als Fremdsprache erlernt wird.

Am Nachmittag erkundeten wir in einem knapp zweistündigen Stadtrundgang die Innenstadt von Brünn bzw. auf Tschechisch Brno. Diese Stadtführung fand ebenfalls in deutscher Sprache statt – schließlich kennen die Tschechen ja ihre Stadt, aber eine solche Führung war für sie auch völlig neu. Zudem hatte die Klasse als Extra zur professionellen Stadtführerin noch jeweils kleine Einlagen auf deutsch parat, die an den touristischen Highlights der Stadt eingebunden wurden. So erfuhren wir beispielsweise, warum am alten Rathaus ein Zierturm absichtlich krumm ausgeführt wurde und was es mit der astronomischen Uhr im Zentrum auf sich hat. Brünn verdankt seinen Aufstieg den Webern und Tuchmachern und wurde im 19. Jahrhundert auch als Pendant zu Manchester gesehen.

Am Dienstagabend trafen sich beide Gruppen, Schüler und auch Lehrer, zum gemeinsamen Billardabend in der Altstadt von Brünn. Recht schnell durchmischten sich beide Gruppen und es wurde mit- und gegeneinander gespielt und über dies und das geredet, so dass dieser Tag erst sehr spät endete.

Am Mittwoch trafen wir uns dann vormittags in der Mährischen Landesbibliothek, genauer in einer Spezialabteilung, der Milan Kundera Bibliothek. Der bekannte tschechische Autor, der ab 1975 im französischen Exil lebte, hatte die Konzeption zu dieser Bibliothek noch erlebt, verstarb aber im vergangenen Jahr im Alter von 94 Jahren. Die ganz neu eröffnete (im letzten Jahr auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellte Bibliothek) ist Erinnerungs-, Veranstaltungs- und Lesetreffpunkt zugleich und wir waren tatsächlich eine der ersten Schulklassen – somit war es auch für die Tschechen völliges Neuland – die diese Bibliothek besuchten. Schließlich stellte die Leiterin der Bibliothek die Konzeption der Räumlichkeiten vor, wonach eine Erkundung und ein Austausch über Kunderas Werke einsetzte.

Zurück an der Schule nahmen wir in gemischten Kleingruppen unsere Projektarbeit zu den „literarischen Grenzgängern" in Angriff. Dabei ist dieser Titel durchaus doppeldeutig zu sehen, denn viele von uns untersuchte Autoren überschritten tatsächlich Landesgrenzen, schrieben in zwei Sprachen oder waren eine Art literarische Avantgarde. In fünf gemischten Gruppen widmeten wir uns Franz Kafka (bzw. den Fotos von Kafkas Orten, die wir in Prag angefertigt hatten) und Milan Kundera („die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"), den beiden bekanntesten Autoren und mit Kundera eben auch einem berühmten Sohn der Stadt Brünn. Aber auch Autoren wie Josef Škvorecký, der unlängst seinen 100. Geburtstag begangen hätte, oder auch Jiří Weil wurden unter die Lupe genommen. Auch sie überschritten Grenzen, nicht nur Landesgrenzen, sondern auch Tabugrenzen, wodurch sie Repressalien ausgesetzt waren und zu Dissidenten wurden. Aber auch zeitgenössische Autoren wie Jaroslav Rudiš, der in deutscher und tschechischer Sprache schreibt, ist ein Grenzgänger ganz besonderer, nicht nur sprachlicher Art. Seine Leidenschaft für Eisenbahnen („Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen") führt ihn immer wieder über Europas Grenzen.

Nach drei ereignisreichen Tagen verabschiedeten wir uns aus Brünn in Richtung Wien, wo die Tradition der Caféhäuser der Wiener Moderne aufgespürt wurde. Die beeindruckende Warteschlange vor dem Café Central ließ erahnen, dass dieses Café auch heute noch Kultstatus genießt. So gab das Wiener Original Peter Altenberg zeitweise diese Adresse als seine Korrespondenzadresse an. Freunde sagten über ihn angeblich, wenn er einmal nicht im Café war, sei er auf dem Weg dorthin gewesen. Im Café Sacher war dann eher der Shop sehenswert, wo asiatische Touristen reihenweise die berühmte Torte zu astronomischen Preisen erstanden. Stephansdom, Hofburg, Opernhaus – all das konnten wir auch bestaunen, bevor es am Abend auf den Prater ging, wo sich nicht nur das älteste Riesenrad der Welt befindet. Und freilich ist der Prater auch Gegenstand und Schauplatz in der Literatur, z.B. bei Franz Grillparzer – doch das sollte dann am späten Abend einmal nebensächlich sein, bevor es tags darauf über Salzburg und München wieder zurück nach Lahr ging, wohin wir mit neuen, bereichernden Ansichten und Einsichten zurückkehrten und in diesen Tagen selbst zu Grenzgängern wurden.

 

Martin Geier