Vortrag von Dr. Marco Brenneisen

„Es wurde fotografiert und gegafft.“ Die Ludwigshafener Fotoserie zur Deportation der JüdInnen aus der Vorderpfalz nach Gurs, Ein Vortrag von Dr. Marco Brenneisen

Im Rahmen des dritten Vortrags der Veranstaltungsreihe „Macht-Bilder!“ erweckte Dr. Marco Brenneisen, Zeithistoriker aus Mannheim, am 18. März in den Räumen der Ehemaligen Synagoge in Kippenheim Fotografien zum Leben, die die frühe Deportation jüdischer Menschen aus der Pfalz am 22. Oktober 1940 dokumentieren.

Insgesamt 23 Fotografien der Ludwigshafener Deportationen nach Gurs wurden überliefert, allesamt aufgenommen auf dem Schulhof der Maxschule im pfälzischen Ludwigshafen, die am Tag der Deportation als Sammelplatz für alle jüdischen Menschen aus dem Landkreis diente, die am Nachmittag per Zug Richtung Frankreich verschleppt wurden.

Die über die intensive Auseinandersetzung mit den Bildern rekonstruierbare Situation auf diesem Schulhof wird treffend durch das namensgebende Zitat der Zeitzeugin Ida Löb aus Mutterstadt beschrieben, die sich erinnert: „Es wurde fotografiert und gegafft.“ Neben den deportierten Menschen, von denen circa die Hälfte bis zum heutigen Stand namentlich identifiziert werden konnte, zeigen die Bilder vergnügte Schüler, die sich lachend, an den Gefangenen vorbei, ins Schulhaus begeben. An diesen Aufnahmen wird ersichtlich, dass die Maxschule an diesem Tag nur teilweise von der Gestapo zur Abwicklung der Deportationen in Beschlag genommen wurde. In den oberen Stockwerken folgte der Schulbetrieb seinem täglichen Lauf, was darauf schließen lässt, dass die organisierte Verschleppung nicht nur wahrgenommen wurde, sondern im Zentrum des städtischen Lebens vonstatten ging und von Zivilisten allenfalls unbeteiligt zur Kenntnis genommen wurde. Eine Fotografie zeigt mehrere Menschen verschiedenen Alters, die das „Spektakel“ auf dem Schulhof interessiert zu beobachten scheinen. In den historischen Kontext gesetzt und mit einer entsprechenden Fragestellung zugänglich gemacht, transportiert dieses Bild über die Zeit hinweg somit eine zugleich unmissverständliche wie schockierende Botschaft: Die Verschleppung jüdischer Menschen aus der Mitte der Gesellschaft in das Internierungslager Gurs, in denen ein Großteil der Deportierten zu Tode kam, fand nicht im Verborgenen statt, da eine Geheimhaltung offensichtlich nicht nötig war. Unter den Augen der Gesamtbevölkerung konnten einige von ihnen per Anordnung verschleppt werden, ohne dass sich ersichtlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt regte.

Dr. Marco Brenneisen, Mitarbeiter des MARCHIVUMS in Mannheim und wissenschaftliche Leitung der KZ-Gedenkstätte Sandhofen, forscht seit Jahren intensiv zu den Gurs-Deportationen. Gemeinsam mit seinem Team konnte er in den vergangenen Jahren durch die akribische Auseinandersetzung mit Deportationslisten, Zeitzeugenberichten und amtlichen Anordnungen an die Ludwigshafener Lokalpolizei den Ablauf der Ereignisse am 22. Oktober rekonstruieren. Die jüdischen Menschen feierten an diesem Tag Sukot, das jüdische Laubhüttenfest, in welchem der Auszug aus Ägypten gefeiert wird, einem identitätsstiftenden Moment von zentraler Bedeutung für Angehörige des Judentums. Am Vorabend erhielt die lokale Kriminalpolizei ein Merkblatt mit Anordnungen für den Ablauf der Deportationen am Folgetag. Mit dem Hinweis, „möglichst“ gewaltfrei vorzugehen, im Gepäck, machte sich die Ortspolizei ab 6 Uhr morgens an die Arbeit. Alle Jüdinnen und Juden wurden im gesamten Landkreis aus dem Bett geklingelt, der Befehl lautete: „innerhalb von zwei Stunden bereitmachen zur Abschiebung ins Ausland“. Mitgenommen werden durfte Verpflegung, begrenztes Gepäck und bis zu 100 Reichsmark. Alle verbleibenden Wertgegenstände mussten, in Briefumschläge verpackt und mit Namen versehen, der Gestapo (Geheime Staatspolizei) übergeben werden. Hierbei sollte die namentliche Beschriftung wohl den Eindruck vermitteln, man bekäme die Wertsachen zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Die meisten der Verhafteten wurden im Anschluss in Bussen zur Sammelstelle auf dem Max-Schulhof gebracht. Dort angekommen konnten die 100 Reichsmark in französische Francs umgetauscht werden, was den Verhafteten einen ersten Hinweis darüber lieferte, wo genau sie hingebracht werden würden. Von der Gestapo organisiert, tummelten sich ebenfalls Notare auf dem Schulhof, die den Auftrag hatten, die Besitztümer und Testamente der „Reichsvereinigung deutscher Juden“ zu überschreiben. Abermals wird an dieser Stelle deutlich, welch zentrale Rolle die monetäre Bereicherung an jüdischem Eigentum für das Motiv der Deportationen spielte. Nach erfolgter Registrierung wurden die Menschen am Nachmittag zum Bahnhof gebracht. Früheingetroffene mussten folglich mehrere Stunden an der Sammelstelle in Ungewissheit ausharren, ehe ihre Reise ins Ungewisse sich in überfüllten Güterwägen auf dem Weg Richtung Westen fortsetzen sollte, in denen sie insgesamt vier Tage und drei Nächte zubrachten.

Zwei Personen, die die Internierung in Gurs überlebten, sind von zentraler Bedeutung für die Überlieferungsgeschichte der Fotografien: Lina und Lea Alsbacher. Nach wie vor bleibt ungeklärt, wie das Ehepaar in den Besitz der Bilder gelangte. Zu ihren Lebzeiten haben sie bereits einige der abgelichteten Personen namentlich identifiziert und ihre Erkenntnisse auf der Rückseite der Abzüge festgehalten. Nach ihrem Tod wurde die kostbare Sammlung dem Mannheimer Stadtarchiv als Schenkung übergeben. Wurden die Bildquellen seitdem lange für rein demonstrative Zwecke, als Anschauungsmaterial für den Ablauf einer Deportation genutzt, so setzen sich Brenneisen und seine KollegInnen gemäß den Ansätzen der Visual History nun kritisch mit den Quellen, mit dem, was sie über den Fotographen, über die Fotographierten verraten, mit deren Überlieferungsgeschichte auseinander und bringen sie somit zum Sprudeln.

Die Fotografien aus Ludwigshafen können eingesehen werden im frei zugänglichen digitalen Bildatlas zur den Deportationen aus dem Reichsgebiet #lastseen unter: https://atlas.lastseen.org/

Clara Schwarz