„Man lernt nicht aus der Geschichte, sondern aus dem Umgang mit ihr!"

Historiker Michael Sturm virtuell zu Gast am MAX

Der renommierte Historiker Michael Sturm thematisierte in einem Online-Vortrag mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 1 am MAX sowie am St. Ursula-Gymnasium in Freiburg Merkmale, Narrationsmuster und Gefahren einer rechtspopulistischen und rechtsextremen Erinnerungskultur in der Gegenwart.

Geschichte begegnet uns täglich in unserer Lebenswelt. Sei es in Gedenkstätten, Filmen oder dem Geschichtsunterricht. Besonders häufig dient Geschichte – als Erzählung über die Vergangenheit – aber auch im Alltag als Argument und Legitimation politischen Handelns. Dies sei „nichts Ungewöhnliches oder per se Schlechtes. Gefährlich werde dies allerdings, wenn Geschichtsdeutungen unkritisch verwendet, bewusst aus dem Kontext gelöst oder gezielt antidemokratisch instrumentalisiert werden", so Sturm.

Zu Beginn seines Vortrags legt der Historiker daher einen Schwerpunkt auf Merkmale eines idealtypischen extrem rechten Geschichtsverständnisses, betont jedoch, dass auch andere extreme Gruppierungen sich solchen Erzählweisen bedienen. Demnach sind solche extrem rechten Geschichtsbilder organisch-völkisch aufgeladen, indem ein nur vage definiertes „deutsches Volk" sich gegen eine äußere Bedrohung von nicht zum Volk gehörenden „Fremden" – wie Migranten, Juden oder Homosexuelle – schützen müsste. Diese Geschichtsbilder sind eng verknüpft mit (antisemitischen) Verschwörungsmythen, wonach „das" deutsche Volk seit Jahrtausenden im Kampf gegen böse Mächte sei.

Daran anknüpfend handelt es sich auch um unhistorisch-mythische Geschichtsbilder, die jedoch vorgeben historisch zu sein, indem auf andere rechtsextreme oder fiktionale Pseudo-„Quellen" verwiesen wird. Beispielsweise wird dabei auf die Germanen als „deutsches Urvolk" referiert. Dieser Rückgriff entspricht jedoch nicht den geschichtswissenschaftlich und archäologisch gesicherten Erkenntnissen. Im Gegensatz dazu werden gesicherte historische Befunde, zum Beispiel über die Verbrechen in der NS-Zeit, als gefälscht dargestellt oder vermeintliche historische Fakten aus dem Zusammenhang gerissen und als Argument in der Gegenwart verwendet.

Des Weiteren fungiert Geschichte und Erinnerung als existentieller Aspekt eines Volkes und einer Generation in einem übergenerationell-verpflichtenden Geschichtsverständnisses. Dabei wird häufig das Volk mit einem Baum verglichen, dessen Wurzeln eine gemeinsame Sprache, Glaube und Kultur seien, ohne diese es nicht existieren könne. Aus historischer Sicht bedingen allerdings vor allem verschiedene Aushandlungs- und Teilhabeprozesse eine gemeinsame Kultur.

Ein weiteres Merkmal umfasst die Verwendung von heroisierend-männlichen Geschichtsbildern, wonach die Geschichte in erster Linie von militärisch-starken Männern an der Spitze einer hierarchischen Gesellschaft gemacht und geschrieben werde. Dies reduziert die Vergangenheit allerdings auf eine männlich Kriegsgeschichte.

Ein letztes Merkmal ist laut Sturm das selbstviktimisierende Geschichtsbild, wonach die außerdeutsche sowie staatliche Erinnerungskultur die „deutsche Nation" als Täter zur Zeit des Nationalsozialismus stigmatisiere, herabsetze und somit einen sogenannten Schuldkuld pflege. Die offizielle Erinnerung an die NS-Zeit sei in diesem extrem rechten Geschichtsbild ein Instrument zur Unterdrückung Deutschlands. Genau deshalb versuchen immer mehr Extremisten die staatlichen Erinnerungs- und Gedenkstätten zu vereinnahmen und dadurch umzudeuten. Man kann von einer regelrechten Piraterie der demokratischen Erinnerungs- und Geschichtskultur sprechen.

Im intensiven Austausch der Schülerinnen und Schülern untereinander sowie im Gespräch mit Michael Sturm wurde daher gemeinsam diskutiert, inwiefern solche extrem rechten Geschichtsmythen und -bilder in der Gegenwart vorkommen und sichtbar sind.

Auch in ihrem Alltag werden Schülerinnen und Schüler mit solchen Narrationen vor allem über (digitale) Medien konfrontiert. Das Video einer Querdenkerin, die sich als Sophie Scholl im Kampf gegen die Corona-Maßnahmen verglich, ging laut den Schülerinnen und Schülern viral. Auch finden sich besonders in Messengergruppen häufig die von Michael Sturm genannten idealtypischen Merkmale eines extrem rechten Geschichtsverständnisses.

Im Umgang mit extrem rechten Erinnerungskulturen wurde durch die Schülerinnen und Schüler dabei die Rolle eines reflektierten medien- und quellenkritischen Bewusstseins hervorgehoben sowie die Bedeutung einer demokratischen Erinnerungskultur, die sich beispielsweise auch in der eigenen Region, z.B. an der ehemaligen Synagoge in Kippenheim wiederfindet.

Geschichte sollte zudem immer mit multiperspektivischen und kontroversen Quellen ausgewertet, gedeutet und diskutiert werden. Sie ist demnach nicht das Abbild der Vergangenheit, sondern die Deutung dieser aus der Gegenwart. „Geschichte ist immer Gegenwart".

Das stadt- und schulübergreifende Erinnerungsprojekt „Transurbanes Erinnern in einer Kultur der Digitalität" des Max-Planck-Gymnasiums in Lahr und des St. Ursula-Gymnasiums in Freiburg unter der Leitung der Geschichtslehrkräfte Florian Hellberg, Christoph Joos (beide Lahr) und Tobias Roth (Freiburg), fand mit diesem Onlinevortrag seinen Abschluss. Dabei leistete es auch einen wichtigen Beitrag zur schulischen Rechtsextremismusprävention und Demokratiebildung.

Nora Mussler