Abiturfeier am 3.7.2010

Abitur 2010 Rede der Schulleiterin

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Ehrengäste,

herzlich willkommen an diesem schulfremden Ort. Seit über 50 Jahren hat das Max-Planck-Gymnasium die Abiturienten in seiner schönen Aula verabschiedet, im Innenhof und unter den Arkaden hat man sich zum Sektempfang und zum gemeinsamen Essen getroffen. Die Schule hat trotz ihres an vielen Stellen maroden Äußeren an diesem Tag geglänzt, alle Beteiligten haben nur die schönen Seiten der Schule wahrgenommen. Mit einem feierlichen Abschied konnten wir die Abiturienten im Hochgefühl des Erreichten von der Schule ziehen lassen.

Die zu keinem Ende kommen wollende Baustelle hat uns nun vertrieben, Reichenbach mit der Geroldseckerhalle und der Stephanuskirche hat uns aufgenommen, dafür ein Dankeschön an die Organisatoren und an die sehr kooperative Ortsverwaltung.

Die Fußballweltmeisterschaft hat den festlichen Rahmen ebenfalls etwas aufgelöst. Unsere Schülerinnen und Schüler haben das Beste draus gemacht, die Halle schön geschmückt, auch den Fußballbegeisterten wurde Rechnung getragen. Das weitere Programm ist abwechslungsreich gestaltet, sie haben sich viel und Vielerlei einfallen lassen, so dass wir nicht nur einen feierlichen, sondern sicher auch einen vergnüglichen Abend verleben dürfen. Ganz herzlich grüßen lässt der erste Bürgermeister der Stadt Lahr, Herr Guido Schöneboom, seine vielfältigen Verpflichtungen haben einen Besuch heute leider nicht zugelassen. Herr Kühn der Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Firma Herrenknecht lässt sich ebenfalls entschuldigen und herzliche Grüße und Glückwünsche ausrichten. Die beiden Herrenknechtpreise müssen somit von mir überreicht werden. Die Vorsitzende des Elternbeirates Frau Claudia Möllinger gibt Euch die Ehre, für den Freundeskreises des Max-Planck-Gymnasiums ist der stellvertretende Vorsitzende Heinz Schlegel da.

Wir entlassen wieder einmal einen uns allen ans Herz gewachsenen Jahrgang ins so genannte Leben. Nicht dass wir annehmen würden, bisher sei das kein Leben gewesen, so ist das nicht, hinaus ins Leben will eher heißen in eine Welt, in der Behütetsein nur noch sehr wenig vorkommen wird. Hier an der Schule seid ihr behütet gewesen, auch wenn der eine, die andere immer mal wieder einen anderen Eindruck gewinnen konnte, sei es, dass er oder sie mit den Mitschülern nicht ausgekommen ist, sei es, dass der eine Lehrer, die andere Lehrerin einigen von Euch das Leben schwer gemacht haben sollten, sei es dass Dinge im privaten Umfeld Euch belastet haben. All die Nöte, mit denen man zu Hause oder im Freundeskreis zu kämpfen hat, üben einen nicht zu vernachlässigenden ?Einfluss auf das tägliche Schulleben aus. Aber bei all diesen Widrigkeiten des Daseins sind sicher die meisten hier mit mir einig, dass die Grundtendenz an dieser Schule doch geprägt ist von gegenseitiger Rücksichtnahme, von Toleranz, von pfleglichem Miteinander, von Empathie. - Bösartigkeit-, egal auf welcher Seite ihr oder wir das manchmal gesehen haben, ist sicher kein Wesensmerkmal unserer Schule. - Ich schließe das aus der großen Zahl Jugendlicher, auch und vor allem in diesem Abijahrgang, die sich für ihre Mitschüler, für die Schulgemeinschaft insgesamt engagiert haben, den vielen, die sich in sozialen Projekten einbrachten, einbringen und weiter einbringen werden, den vielen, die sich beigestanden haben in persönlichen Krisensituationen, Situationen, wo Ihr Euch nicht gegenseitig allein gelassen habt.

Ich möchte meine Rede heute zum Thema Träume im Sinne von Lebensträumen halten. Angeregt dazu wurde ich durch das Theaterstück Blaue Blume aus der Feder von Lena Böllinger und Alexandra Burke, Eure beiden Mitabiturientinnen, die zusammen mit Frau Welz das Stück geschrieben und inszeniert haben. In diesem Stück wurden so viele Aspekte der Suche nach dem Glück, verschiedenste Erziehungsziele, unterschiedlichster Lebensentwürfe, Lebensphilosophien aufgezeigt, dass ich mich vor zwei Monaten beim Ansehen des ?Stücks spontan entschloss, diese Gedanken nochmals in der Abirede aufzunehmen.

Die drei Autorinnen hatten nicht nur dargestellt, mit welchen Ansprüchen wir Erwachsene Euch täglich nerven, wie unsere Ansprüche an Euch geprägt sind von unseren Erfahrungen. Sie haben auch sehr gut herausgearbeitet, mit welcher Realität Ihr Euch auseinandersetzen müsst, von der wir Älteren" nur eine rudimentäre Ahnung haben. Dies unter dem Aspekt, dass alle ein gelingendes Leben anstreben. Was ein gelingendes Leben ist, das muss allerdings jeder für sich selbst entscheiden. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Freundinnen und Freunde können da Hinweise und Tipps geben, können hilfreich zur Seite stehen, können einen Teil des Weges mitgehen, letztendlich aber hat jeder eigenverantwortlich zu handeln und zu entscheiden. Diese Entscheidung und Verantwortung für das eigene Leben kann Euch von keinem abgenommen werden.

Eine Möglichkeit, seinen Weg zu finden, können Träume sein. In diesen Träumen kann man sich ideale Zustände und Verhältnisse vorstellen, die es in der Realität nicht oder noch nicht gibt, Ziele formulieren, die in der momentanen Realität nicht verwirklichbar erscheinen. Ohne Träume gibt es keine Fortentwicklung der Menschheit.

Im Theaterstück belegten die Autorinnen dies mit Zitaten von Martin Luther King, Karl Marx, Berta von Suttner, Rosa Luxemburg, Liu Xiaobo, Platon, Sartre bis hin zu Diogenes von Sinope.

Ich zitiere zwei Beispiele: erstes Beispiel: "...alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Z weites Beispiel: "Die Würde des Menschen ist zu schützen. Niemand darf ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen, verhört oder bestraft werden. Der Ruf von Menschen, die aufgrund ihrer Gedanken, ihrer Worte oder ihres Glaubens kriminalisiert wurden, soll wieder hergestellt werden". Ich könnte nun die Abiturienten oder auch Sie, die Festgäste fragen, ob Sie diese beiden Beispiele einem der oben genannten zuordnen können. Da Sie schließlich nicht zu einem Wissenstest hergekommen sind, löse ich das Rätsel gleich auf. Das erste Zitat stammt von Karl Marx, also aus dem 19ten Jahrhundert und dem mitteleuropäischen Raum, das zweite von Liu Xiaobo, also aus der Jahrhundertwende vom 20. zum 21sten Jahrhundert und aus dem asiatischen Raum.

Die Autorinnen haben durchaus die Gefahren des Träumens gesehen. Wer sich in Traumwelten verliert, verliert die Fähigkeit, sich im realen Leben zu behaupten, so eine der Aussagen im Theaterstück. Dieser evidente Widerspruch von Realität und Utopie ist ein Teilaspekt unserer täglichen Auseinandersetzungen in der Schule, zu Hause, im Freundeskreis.

Im Theaterstück wurden Träume und Träumer als Stolpersteine dargestellt vor allem für die Menschen, die nach herkömmlicher Ansicht mit beiden Beinen auf der Erde stehen, die erfolgreich sind, die ein Ziel vor Augen haben, die so sind, wie Eltern und Lehrer Euch gerne hätten, "weil dies die Wirtschaft ja so verlangt" . So sagt der Protagonist in dem Stück: "Aber was heißt denn das real und vernünftig. Ist es vielleicht das, was die anderen denken oder was wir schon immer so gemacht haben? Und sind Träume für uns vielleicht nur deshalb so irreal, weil sie uns etwas Neues sagen - etwas Ungewohntes?"

An einer anderen Stelle sagt Jule: "Hör mal, du kannst dich nicht immer raushalten. Wenn du schon selber nichts auf die Reihe kriegst, dann tu wenigstens was für uns - aus Freundschaft."

Oder Marianne: "Jeder hat seinen eigenen Weg: die eigenen Stärken und Begabungen. Man darf sie nur nicht vergeuden. Man muss sie nutzen mit voller Kraft."

Einige der weiter oben erwähnten Persönlichkeiten sahen Gewalt als rechtmäßiges Mittel an, ihre Träume von einer guten Zukunft zu verwirklichen. Wenn man bedenkt, in welcher historischen und persönlichen Situation sie ihre Ideen zu verwirklichen suchten, wundert einen das nicht. Die Autorinnen kamen aber beim philosophischen Sinnieren auf der Bühne zu dem Schluss:

"Gewalt ist keine Lösung. Aber es ist auch keine Lösung, Gewalt nur zu verurteilen. Man muss hinschauen, warum die Leute so zornig sind. Vielleicht, weil viel zu viele schweigen....".

Thematisiert wurden auch die Rollen der Eltern und Lehrer. Deren Vorstellungen davon, wie Ihr glücklich werden könnt, bzw. sollt. Dass weder die Leistungsverweigerer noch die Leistungsfetischisten Euch den Weg weisen können. Den eigentlichen Weg müsst ihr selbst finden. Der Protagonist des Theaterstücks hat ihn gefunden, indem er erkannt hat, dass er nicht nur seinen Träumen nachhängen kann, dass er auch ein offenes Auge für die Nöte und Bedürfnisse seiner Mitmenschen haben muss. Träume sind dazu da, sich nicht von widrigen Umständen überrollen zu lassen, sind dazu da, im Mitmenschen nicht nur Gegner zu sehen, sind dazu da, lebenswerte Umstände für alle anzustreben, wohl wissend, dass dies nicht immer sofort gelingen kann. Respekt und Toleranz als Pfeiler unseres Zusammenlebens, wie dies im Grundgesetz verankert ist, kann uns dabei helfen.

Als der "Idee des Gymnasiums" verpflichtete Lehrer haben wir für Euch die Grundlagen dafür gelegt, dass Ihr zu den Eliten des Landes gehören könnt, so Ihr wollt. Auch das ein Traum?!? Konstantin Sakkas, ein Philosoph, Historiker und Jurist des Geburtsjahrgangs 1982, hat in einem Rundfunkvortrag im Februar diesen Jahres die künftigen Eliten sehr positiv beschrieben. Seiner Überzeugung nach werden Eliten nicht mehr aus "einem monolithischen Block arrivierter Bürgerfamilien" rekrutiert, sondern "nur noch die individuelle Bewährung zähle" wenn man zur Elite gehören will, so Sakkas. Eine Symbolfigur unserer Gesellschaft sei der "Freelancer" (outworker, service provider, supplier). Er erfüllt nach Sakkas wie kein anderer das Ideal des Elitebegriffs: "Auslese zu sein, aber nicht unmoralisch ; privilegiert zu sein, aber aus eigener Leistung und eigenem Recht. Leistung und Moral, Individualismus und Gleichheitsdenken schießen in der Figur des Freelancers kristallartig zusammen und machen ihn zum Prototyp einer neuen Elite. Wenn irgend, dann passt auf ihn das Wort des Unternehmers Götz Werner als "Lebensunternehmer". Der Freelancer unternimmt sein eigenes Leben. Elite und Egalitarismus schließen sich nicht mehr aus sondern finden zur Synthese, so war das in diesem Radiovortrag zu hören. Paul Nolte formulierte diese Vorstellung in einem Interview mit Sakkas so: "Wir dürfen nicht mehr nur fragen, was wir ökonomisch investieren können, sondern wie wir unser eigenes Leben verantwortungsvoll gestalten. Verantwortung ist zuerst Selbstverantwortung. Ein sinnvolles Leben ist eines, das ich frei und unabhängig gestalte, aber in Mitverantwortung für andere."

"Die Fähigkeit zu Selbstverantwortung und Selbstgestaltung wird künftig die Schlüsselqualifikation in unserem goldenen Zeitalter der Unsicherheit sein", so Sakkas. Seiner Ansicht nach werden nicht die Eliten sein, die stromlinienförmig Schule und Bachelor-Abschlüsse hinter sich gebracht haben, sondern die, die Umwege gegangen sind, sich Zeit gelassen haben, Lebenserfahrung gesammelt haben, Denken gelernt haben, ein profundes Wissen nicht nur angehäuft sondern auch verarbeitet haben, es sich dienstbar gemacht haben. Sie haben, so Sakkas, "keine primäre ökonomische Motivation, sind selten gierig oder korrupt. Ihnen geht es um die Realisierung nicht irgendeiner hyperriskanten Reichtumsutopie, sondern des bescheidenen, aber feinen, sozial gerechten Wohlstandes, der ihnen als Menschen wohl tut, aber dem kranken Nachbarn nicht schadet." Auch dies ein Traum? ein Traum, dessen Realisierung möglich ist, auf dessen Realisierung hingearbeitet werden kann, einer, der wie die Blaue Blume der Romantik ein sehnsuchtsvoll gesuchtes Ziel ist, in der Realität aber nicht erreichbar? Oder doch ein Traum, dem man durch aktives Handeln möglichst nahe kommen kann, wie es viele Revolutionäre des 19ten und zwanzigsten Jahrhunderts gesehen haben.

Wir alle, Eltern und Lehrer haben uns gemeinsam bemüht, Euch die Grundlagen für gelingende Träume zu legen, die Realisierung von Träumen zu ermöglichen. Viele von Euch haben die Angebote genutzt und sich reichhaltige Portfolios zugelegt, die Zeugnis ihrer vielfältigen Interessen und Tätigkeiten über den Unterricht hinaus ablegen. Der Gabentisch mit den vielen Preisen und kleinen Dankeschöns ist wieder reich gedeckt, nicht nur weil wir einen besonders leistungsstarken Jahrgang verabschieden, sondern auch weil wieder viele von Euch vielfältig engagiert waren, sei es im Theater, in den Musikgruppen, bei der Sozial-AG, in der SMV, beim Jahrbuch, bei den Schulsanitätern oder als Jugendbegleiter.

Ich habe bei der Vorbereitung des heutigen Abends zwei Gedichte gefunden, die meiner Ansicht nach gut zur Situation unserer Abiturienten und deren Eltern zu passen scheinen.

Zunächst Reiner Kunze

Das kleine Auto

Seufzer gibt?s die

absplittern von der seele

So

seufzte die mutter

Fremd wie die welt eiens tiefseefischs

ist das bücherschreiben des sohnes

Auf einer radiowelle

kommt sein name geschwommen

Doch:

was bringt das ein

Andere söhne holen ihre eltern ab

im auto

ist das nicht ein Gedicht ideal für Eltern-Kind -Gespräche, wenn es um glückende Lebensentwürfe geht.

Das Thema des Theaterstück aufnehmend erscheint mir das Gedicht von Ulla Hahn passend.

Endlich

Endlich besoffen und ehrlich

und immer noch?n Sonett.

Reißt mir den Himmel auf

legt mir die Welt ins Bett:

Ich hab genug

ich steh mir selbst bis oben

und werd dies Leben nicht

vor seinem Tode loben.

Jaja ich weiß ihr habt mir keinen Grund

für dieses Wut- und Wehgeschrei gegeben

Mir geht es gut, ich halt ja schon den Mund

nur eine Frage sei noch zugegeben

Seid ihr ganz sicher dass ihr lebt und

heißt Nichttotsein schon Leben?

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit