Auf den letzten Blick - Mitschnitt der Aufführung vom 7.3.24
Auf den letzten Blick
Musikalisch- szenische Inszenierung zur Ausstellung „von der Bevölkerung kaum wahrgenommen...“
Sehen Sie hier den Mitschnitt der Aufführung vom 7. März 2024 in der Ehemaligen Synagoge Kippenheim.
Ende 1995 sind aus einem privaten Nachlass fünf Fotografien aufgetaucht – historische Zeugnisse der Deportation der letzten 31 Jüdinnen und Juden aus Kippenheim am 22. Oktober 1940. Von diesen 31 Personen wurden 18 in Gurs und in Auschwitz ermordet, nur 13 überlebten die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten.
An diesem Tag wurden in Baden aus 138 Dörfern und Städten über 5600 Jüdinnen und Juden deportiert. Dies geschah öffentlich, vor aller Augen. Dennoch sind nur wenige fotografische Zeugnisse überliefert: aus Bruchsaal, aus Bretten, aus Lörrach, aus Tauberbischofsheim, aus Weingarten, aus Gailingen und eben aus Kippenheim.
Menschen haben hingesehen, sie haben sogar Fotos davon gemacht. Diese Fotos widersprechen der Aussage des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich, wonach die Deportation der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion „von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“ worden sei. Diese Fotos sind Zeugnisse. Zeugnisse dafür, dass es Zeugen gab, dass das Unrecht, am helllichten Tag passierte, dass die Menschen hinsahen, nur um danach schnell wegzusehen.
Warum gibt es dennoch so wenig Bilder? Es gab kein direktes Fotografieverbot, jedoch haben die Präsenz von Polizei und Gestapo allein wohl häufig den gleichen Zweck erfüllt. „Irgendwie war es verboten“, es fühlte sich auf alle Fälle verboten an und wurde deshalb unterlassen. Zudem waren Fotoapparate damals nicht sehr verbreitet, nicht jeder hatte ein Smartphone in seiner Hosentasche. Viele der gezeigten Bilder sind zudem Zufallsfunde, es könnte also noch weiteres unentdecktes Bildmaterial auf Dachböden, in Kellern oder in Schuhkartons geben.
Sprechen die Bilder für sich? Nein, wir müssen sie zum Sprechen bringen. Und genau das wollen wir mit dieser musikalisch-szenischen Inszenierung tun.
Die Theater-AG der Oberstufe des Max-Planck-Gymnasiums unter der Leitung von Aïsha Hellberg sowie die Kompositions-AG des Clara-Schumann-Gymnasiums unter Leitung von Christian Wenzel setzten sich mit den sogenannten Deportationsfotografien aus Baden auseinander, die erstmals in der Ausstellung „von der Bevölkerung kaum wahrgenommen…“ gemeinsam gezeigt werden und das geschehene Unrecht bezeugen. Ausgehend von den Bildern entwickelte die Theater-AG Szenen und Performances, die Kompositions-AG unter Leitung von Christian Wenzel näherte sich musikalisch den Fotografien an. Durch das fruchtbare Zusammenspiel dieser beiden Ansätze entstand die musikalisch-szenische Inszenierung Auf den letzten Blick, die die Fotos zum Sprechen bringen und damit den Opfern nationalsozialistischen Unrechts eine Stimme geben will. Die Inszenierung erhebt dabei nicht den Anspruch, die von Uwe Schellinger beklagten „unterbelichteten Erinnerungen“ historisch aufzuarbeiten, vielmehr soll hier in theatral-musikalischer Form erinnert werden an die Opfer nationalsozialistischen Unrechts und daran, wozu es führen kann, wenn man hinschaut, aber dann wegschaut, statt etwas zu tun.
Theater-AG
Madita Bernack
Eilyn Cabrera Martinez
Anne Gerhardt
Alina Jäger
Malina Lachmann
Elin Mamat
Madeleine Schaak
Mika Schuvje
Aurica Stelz
Kompositions-AG
Annika Baumbusch
Constantin Fedorez
Jonah Keyser
Maike Schertling
Jonathan Vogt
Musikalische Leitung Christian Wenzel
Text Aïsha Hellberg
Regie Aïsha Hellberg
Plakat/ Programmheft Carla Wichmann
Live-Mitschnitt Alexander Weigand
Danksagungen
Unterstützt wurde das Projekt von dem Verein der Freunde des Max-Planck-Gymnasiums e.V., dem Freundeskreis des CSG, dem Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim e. V. und dem Inlandsprojekt KIWI von Care Deutschland e.V.
Unser besonderer Dank gilt Florian Hellberg und Jürgen Stude, die federführend dafür verantwortlich sind, dass in der Ehemaligen Synagoge Kippenheim alle bis dato bekannten Aufnahmen aus Baden (Bretten, Bruchsal, Gailingen, Kippenheim, Lörrach, Tauberbischofsheim und Weingarten) gemeinsam gezeigt werden und sich Schüler*innen der Bildungspartnerschulen des Fördervereins Ehemalige Synagoge Kippenheim mit diesen wichtigen Zeugnissen nationalsozialistischen Unrechts auseinandersetzen.
Kurt Salomon Maier:
„Als ich ein kleiner Junge war, liebte ich Züge“
Als ich ein kleiner Junge war, liebte ich Züge.
Aber als ich 10 Jahre alt war, musste ich die längste Zugfahrt meines Lebens machen.
Ich erinnere mich, wie ich aus der Schule geholt wurde
und wie meine Großeltern da standen mit Kissenbezügen,
in die sie all ihre Habseligkeiten gestopft hatten.
Ich sehe uns in Kippenheim auf einen Militärlaster steigen und höre,
wie ein Offizier auf dem Bahnsteig zu meinem Vater sagt:
„Sie können Ihr Eisernes Kreuz abnehmen; es nützt Ihnen doch nichts.“
Wir fuhren über den Rhein. Überall wurde geerntet.
Die Bauern arbeiteten neben den Bahngleisen mit Sensen und Handkarren.
Es war auch die Zeit des jüdischen Sukkot-Festes, das Laubhüttenfest.
In Deutschland wurde ebenfalls geerntet.
Aber die Ernte waren Menschen.
[…]
Sie sammelten uns alle ein.
Es spielte keine Rolle, wer man war.
Wir hatten alle eines gemeinsam: wir waren, was sie suchten.
Jetzt ist wieder Erntezeit – nun sind wir gekommen,
sie einzusammeln – in unserem Gedenken.
[…]
Kurt Salomon Maier: Unerwünscht. Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers, Ubstadt-Weiher u. a. 2011, S.84-85.
Quellen/ Zum Weiterlesen:
#lastseen Bildatlas https://atlas.lastseen.org/
Kurt Salomon Maier: Unerwünscht. Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers, Ubstadt-Weiher u. a. 2011.
Uwe Schellinger: Vortrag über Unterbelichtete Erinnerung: Fotohistorische Zugänge zur Deportation der badischen Juden am 22.10.1940, in: AG für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein e.V., Protokoll über die Arbeitssitzung am 13.12.2001, S. 27-28.